Perfektionismus oder die Wahl zu haben, menschlich zu bleiben - Joachim Hartmann Coach & Trainer
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Perfektionismus oder die Wahl zu haben, menschlich zu bleiben

Perfektionismus oder die Wahl zu haben, menschlich zu bleiben

Sommerpause, der letzte Tag vor dem Urlaub. Eigentlich könnte ich die Beine hochnehmen, den Schreibtisch räumen, das Büro verlassen. Eigentlich! Doch da wäre noch der Blog zu schreiben, 1400 Wörter, exakt sein, jeder Satz eine geschliffene Aussage, mit Gehalt. Am besten mit Zwischenüberschriften und Aufzählungen: „Die zehn besten Tipps, wie Sie Ihren Perfektionismus verlassen“. Am besten so, dass ein Lesender den Experten identifiziert und sofort zum Hörer greift. Am besten, am besten …

Na klar, braucht die Zeit, in der wir leben, das Perfekte. Das ist auch gut so. Keiner will vom Himmel fallen, weil das Flugzeug nicht perfekt funktionierte, beim Starten, Fliegen, Landen. Ich möchte nicht nach einer Magen-Operation das Skalpell Jahre später auf einem Ultraschallbild sehen.

Doch es gibt eben auch den Ingenieur, der an seinem Gerät, seine Erfindung, zehn Jahre bastelt, sie nicht am Markt positionieren will, obwohl es eine Nachfrage gibt, weil sie nicht perfekt ist. Er wundert sich, eventuell, dass ein anderes Unternehmen schneller war, weil es ein ähnliches und funktionierendes Gerät verkaufen und in die Anwendung bringen konnte. Die anfänglichen geringfügigen Fehler wurde während der Nutzungszeit behoben. Und der Ingenieur? Seine Frau trennte sich von ihm, seine Investoren trennten sich von ihm. Was aus ihm wurde? Er sitzt bestimmt immer noch in seiner Werkstatt und entwickelt das Gerät. Das dürfen wir dann gern „Perfektionismus“ nennen, die Übertreibung im Streben nach Perfektion.

 

Perfektionismus – das übertriebene Streben nach möglicher Perfektion und Fehlermeidung.

Es geht um die Übertreibung. Es geht darum, dass wir in unserem Tun und Handeln, im Beruflichen und Privaten höchstwahrscheinlich einen gewissen Maßstab anlegen, bewusst oder unbewusst, antrainiert oder auf natürliche Weise erworben, genetisch veranlagt oder anerzogen.

So weit, so gut. Doch aus irgendwelchen Gründen scheint unsere Fähigkeit, das Gleichgewicht zu halten oder wieder zu finden verlorengegangen zu sein.

Ich meine das Gleichgewicht „des gesunden Maßes“. Mir ist bewusst, dass genau das sich im Verlauf der menschlichen Entwicklung verändert, weil dieses Maß, der Maßstab unter dem Einfluss eines „gesellschaftlichen Zeit-Verständnisses“ steht. Klar.

Unsere hoch entwickelte Zivilisation (und selbst das werden nachfolgenden Zivilisationen schnell relativieren) mag es eben nicht mehr, dass wir ungeschliffene Rohdiamanten in die häusliche Vitrine legen oder als Bohrer-Spitze verwenden. Ich meine auch nicht bei dem Hang nach Perfektionismus, dass sich die Dinge entwickeln. Das Flugwesen und alles Lebende braucht seine Zeit der Entwicklung. Ich meine: Die Übertreibung des Perfekten. Ähnlich meines genannten Ingenieurs. Der Hang zu übertriebenen Fehlervermeidung gehört mit zum Perfektionismus.

Als Dozent an einer Hochschule hatte ich 10 Jahre das Vergnügen, junge Damen und Herren zu trainieren, auszubilden, zu lehren, wie sie ihre Fähigkeiten auf dem Gebiet der menschlichen Kommunikation verändern. Es gab immer wieder Damen wie Herren, die sich nur aus einem einzigen Grund nicht an einem Rollenspiel beteiligten: Angst davor, einen Fehler zu machen.

Hey Sie, es geht darum, Fehler machen zu dürfen, jedenfalls beim Lernen. Die Kunst bestand dann darin, ihnen folgendes mit auf den Weg zu geben: Sie dürfen Fehler machen, ich werde sie nicht kritisieren wegen des Fehlers, ich werde mit ihnen gemeinsam Wege und Möglichkeiten finden, welche Alternativen sie für diese oder jene Situation haben. Sie entscheiden dann selbst, was davon sie anwenden wollen würden.

Wieso legen wir das ganz normale Menschliche ab, nicht perfekt zu sein in unserem beruflichen Handeln und streben, stattdessen in einem Übermaß nach Perfektion und nennen das dann Perfektionismus?

 

Wo Perfektionismus geboren wird

Für mich sind es im Wesentlichen zwei Bereiche, die ich als Quelle des Perfektionismus bezeichne:

  1. Die Hochleistungsgesellschaft – das zu begründen erspare mir heute in diesem Blogbeitrag, obwohl – etwas klang es schon an.
  2. Das Bedürfnis von uns Menschen nach Wahrgenommen werden und allem, was damit verbunden ist – nennen wir es gern Liebe, Geborgenheit, genommen werden, wie man ist, akzeptiert werden, Anerkannt zu werden und zeitgemäß: wertgeschätzt zu werden.

 

Es menschelt also auf der Wippe der Perfektion und der Fehlervermeidung.

Wir sind Menschen. Wir erbringen Leistungen.
Wir haben Erwartungen an uns und an andere.
Wir werden kritisiert, wir kritisieren.
Und im Lauf des Lebens entwickelt sich dann unser Perfektionismus. Nicht bei jedem, nicht bei allen.
Wenn Sie dazu gehören – willkommen im Club.

Wollen Sie diesen Club verlassen?

Wenn Sie darunter leiden oder andere sich erlauben, Sie darauf hinzuweisen, dass es bei Ihnen schon etwas übertrieben ist, wie sehr Sie nach Perfektion streben, dann könnten – also könnten – Sie etwas tun, um davon wegzukommen.

Ihre Entscheidung. Doch lassen Sie Finger im Folgenden davon, wenn Sie nicht wissen oder fühlen, dass Sie darunter leiden.

 

So kommen Sie weg vom Perfektionismus, dem eigenen

  1. Versuchen Sie bitte die Frage zu beantworten: Wozu wollen Sie steht’s und ständig perfekt sein?
    Das kann etwas ungemütlich werden. Wenn Sie Antworten finden wie: meinem Vorgesetzten (w, m, d) zu gefallen, meinen Kollegen das Arbeitsleben leichter zu machen, gelobt zu werden, Anerkennung zu bekommen, gewertschätzt zu werden, Erwartungen an Sie gerecht zu werden – dann geht es mit Punkt zwei weiter. Wenn Sie antworten, wie – „das ist nun mal so“ oder ähnliche Formulierungen – dann geht’s bitte auch weiter.
  2. Lernen Sie für sich, das „Gut“ zu akzeptieren.
    Dafür verwende ich gern diese Metapher: „Nur ein Diamant entsteht unter Druck. Menschen zerschellen.“ Menschen werden zum Diamanten, wenn sie an ihre Potentiale, an ihre Kreativität herankommen. Das benötigt – umgangssprachlich formuliert – Lockerheit. Die Psychologen unter den hier Lesenden dürfen gern genauer beschreiben, was das nun wieder bedeutet. Bei einem, Herrn Dr. Roland P. Lange aus Berlin, fand ich die Beschreibung, wie unsere Kreativität beim Entfalten gehemmt werden kann im Verlauf unserer eigenen Entwicklung. Akzeptiere ich das „Gut“, werden Sie lockerer. Werden Sie lockerer, kommen Sie an Ihre Kreativität, an ihre Potentiale. Was passiert, wenn Sie locker an all das kommen? Sie werden besser. Reicht Ihnen das? Mir ja.
  3. Lernen Sie abzuwägen: Wann will ich trotz allem perfekt sein, weil es um eine bestimmte Sache geht? Wann reicht es, gut zu sein ohne der Sache zu schaden? Ich z. B. weiß, dass Damen und Herren in Seminaren, meine Professionalität daran messen, wie strukturiert ich vorgehe und wie genau ich das Thema, z. B. die „Grundlagen einer Unterweisung am Arbeitsplatz“ beherrsche. Da bin ich dann perfekt, bezogen auf die Struktur, den Inhalt. Jedoch gehe ich entspannt damit um, wenn ich den Pfad mal verlassen, das Skript einen Kommafehler hat oder die Pinnwand umfällt. Alles klar?
  4. Wenn das immer noch nicht hilft, dann fragen Sie sich: Wovor habe ich Angst, eigentlich? Fassen Sie Vertrauen, finden Sie Mut, wenn Sie sich auf Neuland vorwagen. Von Goethe sind die Worte überliefert: „Stelle dich der Angst und sie verliert ihr hässliches Gesicht“ (frei nach Goethe).
  5. Veröffentlichen Sie Ihr Vorhaben, Ihren Perfektionismus in die Verbannung zu schicken. Wir sind soziale Wesen. Wir brauchen das Feedback anderer. Besonders wichtig (leider auch sehr unbequem) ist die Rückmeldung von uns nahen Menschen. Veränderung braucht Bindung. Bindung bauen wir zu Menschen auf, denen wir vertrauen. Lassen Sie einen vertrauten Menschen teilhaben an Ihrem Vorhaben – das mit der Verbannung. Diese Menschen dürfen es Ihnen sagen, wenn Sie ab und an den Mut und das Vertrauen zu sich verlieren oder wieder einmal zu viel Angst haben. Diese Menschen dürfen Sie auch loben, wenn Sie auf dem Weg vorankamen. Und ein Ziel zu veröffentlichen gibt etwas Druck – den ich gern so bezeichne: „Den positiven Veränderungsdruck“. Wenn Ihnen Druck als Begriff nicht gefällt – es gab ja weiter oben die Metapher mit dem Diamanten – nennen Sie das gern anders, z. B. Konsequenz, Disziplin, Durchhaltevermögen.
  6. Wenn es mal schiefgeht, dann „Haken dran“ und beim nächsten Mal wieder neu versuchen. Veränderung braucht eben auch Geduld, neue Nervenautobahnen. Misserfolge gehören ganz normal dazu. Sie können ja zusätzlich an Ihrer Misserfolgs-Toleranz basteln.

 

Fehlt Ihnen noch etwas?
Ganz bestimmt.
Wie war das mit dem Perfektionismus?

 

Schöne Sommerpause.

Der nächste Blog-Beitrag folgt am 02.09.2020