02 Jun Endlich per Du – wenn das Sie schlafen geht
Etwas Robustheit hatte ich schnell zu aktivieren. Ein Mail kam an. Sabine meldete sich (den Namen erfand ich gerade). Oh, wie fein. Doch wer ist Sabine? Auf jeden Fall, es war kein Spam-Mail. Erleichterung. Sabine ist Teil-Lenkerin eines großen Unternehmens, an das ich mich vertraglich band. Die Überschrift enthielt: „… endlich per Du“. Meine Neugier war geweckt. Glückwunsch, liebe Marketingprofis – wieder einmal habt ihr es geschafft, mich mit einem Thema auseinander zu setzen, wozu ich just in diesem Augenblick keine Lust hatte:
Sabine möchte, im Sinne ihres Unternehmens, dass ich endlich per Du mit ihr bin und mit allen anderen ihres Unternehmens und ihren Kunden auch. Hurra!
Reden wir uns ab jetzt alle per Du an, wenn das Sie doch bisher eine Variante war, mit der wir leben wollten und konnten?
Genau hierüber will ich heute berichten: was kann es bewirken, reden wir uns ab heute alle per Du an, und wie sehr werden wir zu etwas bewogen, was wir von selbst nicht wollen würden. Diese letzte Aussage schiebt mein Denken auf die Idee: Oh, werde ich manipuliert?
Um die Gedanken zu ordnen:
Es ist wirklich passiert, ich bekam tatsächlich ein Mail von Sabine. Sabine trägt einen ordentlichen Namen. Ich sollte sie am besten auch so anreden. Frau Anton (auch der Name ist erfunden). Weil ich natürlich etwas provozierend schreibe, necke ich mit dem „Sabine“ und dem Du. Provozierend deswegen, weil es dem Nachdenken Flügel verleihen kann.
Mini-Exkurs: Manipulation.
Mein Duden übersetzt Manipulation als Kunstgriff, als Verfahren und auch als: Machenschaft. In einem älteren Wörterbuch finde ich: „… Lenkung der öffentlichen Meinung mit dem Ziel, das Bewusstsein der Menschen … gleichzuschalten.“ Werde ich in Seminaren gefragt, was Manipulation für mich bedeutet, gebe ich gern kund: Beeinflussung zu einer Handlung, zu der ich ohne diese Beeinflussung nie und nimmer bereit gewesen wäre; ungefragt und ungebeten. Unser Alltag ist wohl voll davon, zu manipulieren. Vielleicht trägt jede Art der Kommunikation Züge von dem, andere zu manipulieren, andere zu bewegen, etwas zu tun. Zurück zum Thema.
Was regt mich am Du so auf im beruflichen Zusammenhängen?
(Ich meine nicht das freundliche Du, was einem „herausrutscht, wenn man eine Woche an einem Projekt gearbeitet hat und es eher eine menschliche Komponente bekommt.)
„Wir wissen, dass mehr als die Hälfte …“
Wir sind Teil eines Produktlebenszyklus.
Wir werden Teil einer Dienstleistung oder eines Prozesses, der Produkte schafft und Handel betreibt. Was sollte dagegen einzuwenden sein? Nichts. Wenn mir die Gelegenheit gegeben wird, mich zu entscheiden. Wenn ich dorthin bewegt werde, so zu denken, nenne ich es Manipulation. Das geht häppchenweise: „Wir wissen, dass deutlich mehr als die Hälfte …“. Aha! Also mehr als die Hälfte? Wovon die Hälfte? Wie kommt einer an das Wissen darüber, was die Hälfte will und denkt? Die Hälfte von einem Ei ist gut zu teilen. Die Hälfte eine Kurses kann ich gut überblicken – man hebt die Hand und stimmt zu oder dagegen. Die Hälfte von 18 Millionen ist 9 Millionen. Was weiß ich mit Sicherheit über 9 Millionen Menschen? Ich nicht. Wissenschaftler? Na ja. Wie groß ist die Menge einer repräsentativen Umfrage? 100? 2000? Ok. Ich werde vorsichtig, wenn ich von etwas überzeugt werden soll, was meinem gesunden Menschenverstand zuwider läuft.
Das Du suggeriert. Ich werde Teil eines Kreislaufes. Am Ende geht es um ein Geschäft. Zu dem ich auch ohne Du bereit war, es einzugehen. Was soll ich noch „schlucken“ oder kaufen? Worauf soll ich vorbereitet werden, es zu kaufen? Wo von soll ich überzeugt werden, dass ich es brauche?
Ja, klar, so funktioniert Marketing.
„Wie wir so ziemlich genau wissen …“
Passen Sie auf sich auf. „So ziemlich“. Wie denn nun? Genau oder nur ziemlich? Ich werde hellhörig. Ganz schnell wirkt es relativierend – einschränkend, mit etwas anderem ins Verhältnis setzend. Richtig oder falsch? Was wird von mir erwartet. Und wieder fragt sich mein Denken: was will jemand von mir?
Irgendwie auch: logische Manipulation.
Ich bleibe vorsichtig.
„Bei uns wohlfühlen …“
Noch besser. Mein Fühlen wird aktiviert. Mein Denken ist es schon lange. Wussten Sie, dass wir Menschen uns unterscheiden bezogen auf Denken und Fühlen als Elemente der Emotionen?
Mini-Exkurs: Emotion
Emotionen sind zu verstehen als komplexes Muster der Veränderungen, die physiologische Erregung (z. B. das Knie zittert), Gefühle (z. B. Angst), kognitive Prozesse (z. B. mein Denken – wo lauert die Gefahr) und Verhaltensweisen (z. B. Flucht) einschließen. Emotionen treten als Reaktion auf persönlich bedeutsame Situationen auf und das meistens spontan. (zitiert nach Dr. Roland P. Lange)
Gefühle entstehen durch Bewertung von Ereignissen. Sie spiegeln die Erlebnisqualität von Emotionen wieder und sind daher eng mit emotionsbezogenen Kognitionen verknüpft.
(zitiert nach Dr. Roland P. Lange)
Wozu brauchen es handelnde Menschen, andere von uns so bewusst auf unser Fühlen anzusprechen?
Klar, wir sind Menschen, wir werden bewegt durch unsere Gefühle. Die Natur hat sie uns mit auf den Weg gegeben. Wir brauchen sie ganz sicher zum Überleben. Ich denke, irgendwann kam das Marketing auf die Idee, dass wir Menschen uns gut bewegen lassen, wenn unsere Gefühle aktiviert werden. Doch wozu? Zu welchem Zweck?
Nebengedanke
Ja, ja, – ich schreibe hier ja auch aus einem Grund: Sie zu bewegen, dem Schreiber einen Hauch an Kompetenz zuzuschreiben bezogen auf Kommunikation, Ausbildung, Führung, Motivation. Wohlfühlen soll aktiviert werden. Mein Nachdenken darf schlafen gehen. Ja, der eine und der andere Mensch werden erreicht, wenn sie sich wohlfühlen. Vollkommen in Ordnung.
Etwas spitz: Lasst uns alle wohlfühlen und uns zusammen in den Abgrund springen. Hurra. Sorry. Und wenn mein Gefühl überflutet wird, dann hinkt mein Nachdenken. Nebelwände. Kluge Strategie. Am Ende kaufe ich etwas. So funktioniert Wirtschaft. Doch ich kann mich auch fragen, was verbirgt sich hinter einer Dienst-Leistung, hinter einem Produkt. Doch um so zu handeln, sollte ich mir bewusst werden, dass mein Fühlen gerade „manipuliert“ wird.
Wohlfühlend zur Leistung treiben
Ich sitze an meinem Schreibtisch. Die Sonnen scheint. Es ist Pfingstmontag. Glauben Sie wirklich, es fühlt sich gut an? Nein! Ich weiß, dass ich etwas machen will. Einzig meine Disziplin treibt mich an, solange weiterzuschreiben, bis ich das definierte Ende erreicht habe.
Schnöde Disziplin. Ein sehr altes Gut.
Doch schaffen es leider nicht alle Menschen, diszipliniert zu sein. Andere werden, wüssten sie es, mich für vollkommen „rational gesteuert halten“. Nein. Das Ergebnis gibt mir das Wissen, etwas für mich Wichtiges geschafft zu haben. Das Gefühl legt sich darüber. Beides zusammen ist eine Einheit, die süchtig machen kann, doch das ist wieder ein anderes Thema.
Wofür sprechen mich sehr fremde Menschen an, mit denen mich nur ein Vertrag verbindet, etwas zu fühlen, wofür ich letztlich nur selbst verantwortlich bin?
Kaufen. Dabei bleiben. Dienstleistungen nutzen. Alles gut so. Doch bitte überlassen Sie es mir, sehr geehrte Sabine Anton, mich für oder gegen Sie zu entscheiden. Und lassen Sie mir meine Verantwortung dafür, sich wohl zu fühlen.
Finale: Das Du
Die lockere Ansprache wird gewünscht. Eine Beziehung wird aufgebaut. Wieder schaut das Gefühl um die Ecke.
Doch auf welcher Ebene kommunizieren wir, wenn die eine Seite mir einen Vertrag anbietet und ich ihn annehme? Sind wir gleich? Beruht unsere Beziehung auf dem Prinzip der Gleichheit oder auf der Unterschiedlichkeit? Dieses Prinzip gilt auch für die inneren Beziehungs-Verhältnisse in einer Organisation, in einem Unternehmen? Können wir gleich sein? Wird unser Unterschied nicht durch die Stellung im System des Wirtschaftens bestimmt? (Es gibt den Begriff der Marktmacht. Was mich wegführt vom Thema „DU“.)
Ich bin nicht gleich mit einem, der im Namen von 18 Millionen Vertragspartnern spricht. Ich bin nicht gleich mit einer Vorstands-Vorsitzenden, wenn Sie entscheiden darf darüber, ob das Unternehmen fusioniert oder auswandert. Ich darf für mich entscheiden, ob ich mitmachen will als Angestellter oder als Dienstleister. Wofür dann das Du?
Über das Symmetrische in der Kommunikation
Es hilft auf jeden Fall bei Paul Watzlawick nachzulesen in seinem Werk „Menschliche Kommunikation“, um zu verstehen, was es bedeutet, in einer symmetrischen Interaktion zu kommunizieren: Das Gleiche zu betonen und Unterschiede zu vermindern. Der Mensch strebt nach Harmonie, weil wir soziale Wesen sind. Rein lebens-praktisch verstehe ich das als Prozess, auf den ich mich einlasse oder nicht. Wird er allerdings von außen beschleunigt, frage ich mich schon: was will ein anderer Mensch von mir, dass ich es tue oder lasse?
Ja, es geht um Beziehungen, die ich belasten kann mit dem Auf und Ab des Beruflichen.
Ja, von mir wird im Beruf Leistung erwartet, wofür ich ein Äquivalent bekommen in Form von Lohn, Gehalt oder einer beglichenen Rechnung. Das ist klare Kommunikation.
Nur leider kommen wir am Ende dahin, dass unsere Leistungsfähigkeit ein begrenztes natürliches Gut ist (meine Annahme) und dahin, dass sich Produkte und Dienstleitungen dem inneren Kern nach nicht mehr wesentlich unterscheiden (ja, mal mit etwas Vorlauf – bin schneller gewesen oder mit etwas Nachlauf – ich bin vom Markt verschwunden (leider).
Daher braucht es ein anderes „Medium“ um uns zu unterscheiden und unsere Leistungen als Mensch, als Institution oder als Unternehmen wach zu halten: Das Du. Ich nenne dann den Prozess dorthin, zum Du, schlicht und ergreifend: Suggerieren, um einen Vorteil, einen Nutzen mehr oder weniger einseitig zu erzielen.
Früher, also richtig früher, sagten wir uns wechselseitig, wenn das Du zu früh kam:
„Haben wir schon zusammen Schweine gehütet, Pferde gestohlen, Kohlen geschippt?“
Was taten wir also, um ein Du zu erlauben? Vertrauen aufbauen durch Leben und Arbeiten an etwas Gemeinsamen. Punkt. Jedes Wort zieht mich in ein neues Thema.
Sie dürfen alles gern anders sehen. Ja, Kultur ändert sich. Manchmal plötzlich, manchmal über Jahrhunderte.